Geschlechtsspezifische Unterschiede der Depression

Bei Frauen wird mindestens doppelt so häufig eine depressive Störung diagnostiziert wie bei Männern. Es gibt unterdessen eine Vielzahl von Erkenntnissen, die versuchen, diesen gender-gap zu erhellen.

Man ist sich heute einig, dass (neuro)biologische und psychosoziale Faktoren und eine Unterdiagnostizierung der männlichen Depression für den markanten Unterschied verantwortlich sind. Die hormonellen Veränderungen in Pubertät, Schwangerschaft, nach der Geburt und während der Wechseljahre stellen hohe Anforderungen an die Integrationsfähigkeit der Frauen und sind anfällig für Krisen und die Entwicklung von Krankheitssymptomen. Dabei spielen eine genetische Belastung in Bezug auf Depression, depressive Episoden in der Vorgeschichte und die jeweils individuelle psychische Vulnerabilität auf hormonelle Schwankungen eine wesentliche Rolle. Es gilt als umstritten, ob eine Schwangerschaft – wie früher angenommen – einen positiven Einfluss auf eine psychische Erkrankung und sogar eine protektive Wirkung hat. Man kann aber davon ausgehen, dass es kein erhöhtes Risiko einer Erkrankung in der Schwangerschaft gibt im Vergleich zu anderen Zeiten im Leben einer Frau. Nach der Entbindung gibt es dagegen ein relevantes Erkrankungsrisiko, sowohl für gesunde Frauen im Sinne einer erhöhten Vulnerabilität nach einem bedeutenden Lebensereignis im Zusammenwirken mit den ausgeprägten hormonellen Veränderungen als auch im Sinne eines Rezidivrisikos für alle vorbestehenden psychischen Störungen.

Für die Menopause gilt ein erhöhtes Depressionsrisiko signifikant für die Zeit der Perimenopause, wenn die Hormonniveaus zu schwanken beginnen, was sich in Zylusunregelmässigkeiten und den typischen klimakterischen Beschwerden äussert. Nach überstandener Umstellungsphase sinkt das Depressionsrisiko erneut ab. Neben den frauenspezifischen Umstellungsphasen gibt es eine Reihe weiterer, vor allem psychosozialer Faktoren, die für die doppelt so hohen Prävalenzraten verantwortlich gemacht werden. Stichworte in diesem Zusammenhang sind geschlechtsspezifische Erziehung und Sozialisation von Knaben und Mädchen. Mädchen werden eher zu gelernter Hilflosigkeit mit geringem Selbstvertrauen erzogen. Ausserdem sind Frauen einem grösseren psycho-sozialen Stress ausgesetzt durch den unterschiedlichen sozialen Status sowie durch die multiplen, sich miteinander konkurrierenden Rollen als Mutter, Ehefrau, Geliebte, Tochter, Berufsfrau usw.. Dadurch haben sie weniger geregelte Freizeit und sind mit multiplen Belastungen aus diesen Beziehungen konfrontiert. Auch sind Frauen häufiger Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt, was das Depressionsrisiko ebenfalls ansteigen lässt.

Und die Männer?

Heute geht man auch bei den Männern von höheren Prävalenzraten in Bezug auf depressive Erkrankungen aus, jedoch vermutet man eine krasse Unterdiagnostizierung und folglich auch Unterbehandlung der männlichen Depression. Ein Argument für diese Behauptung findet man beim Betrachten der um ein Mehrfaches erhöhten Suizidrate bei Männern (3,5 Mal höher als bei Frauen in CH im Jahr 2000). Geht man gleichzeitig davon aus, dass ca. 70% der Suizide als Folge depressiver Störungen begangen werden, zweifelt man an den bestehenden Prävalenzzahlen. Gründe für die Unterdiagnostizierung werden gesehen im mangelnden Hilfesuchverhalten der Männer, einer dysfunktionalen Stressverarbeitung (Stichwort Suchtmittelkonsum) und dem Rollenstereotyp der Diagnostizierenden, die bei Männern weniger depressive Symptome erwarten. Als Leitsymptome der männlichen Depression gelten heute als empirisch belegt: Erhöhtes Risikoverhalten, Substanzmissbrauch, Irritabilität und Aggressivität.

M.B. Abelovsky